Vogelzug und Klimawandel: Wie verändern sich Zugwege?
Vogelzug ist wahrscheinlich eines der erstaunlichsten Phänomene der Evolution auf unserem Planeten. Wir wissen nicht ganz genau, wann die heutigen Zugwege entstanden sind, Wanderungen von Tierarten sind aber wahrscheinlich deutlich älter als Vögel als eigenständige Tiergruppe selbst. Vielfach wird selbstverständlich angenommen, dass die letzten Eiszeiten und das anschließende Holozän einen starken Einfluss auf die heutigen Wanderungsbewegungen insbesondere auf der Nordhalbkugel und damit auch hier bei uns in Europa gehabt haben. Einige Zugwege erscheinen erstaunlich konserviert: Steinschmätzer aus Alaska fliegen über abertausende Kilometer durch Asien, um in Afrika zu überwintern. Mögliche Überwinterungsgebiete in Amerika erscheinen viel näher. Neuntöter aus dem Westen ihres Verbreitungsgebietes überwintern im östlichen Afrika und ziehen nicht nach Westafrika. Der Vogelzug hat starke genetische Grundlagen. Schon lange ist das Phänomen der Zugunruhe bekannt. In den Zugzeiten hüpfen selbst gekäfigte Vögel aufgeregt hin und her. Sofern die Vögel sich orientieren können, hüpfen sie vor allem in die Richtung ihrer bevorzugten Abzugsrichtung - viele Zugvögel aus NRW würden sich im Herbst in der Südwestecke einer Voliere aufhalten. In bahnbrechenden Experimenten an Mönchsgrasmücken wurde gezeigt, dass die Nachkommen von Südwest- und Südostziehern eine mittlere Route nach Süden bevorzugen. Gleichzeitig etablieren sich aber auch neue Zugwege. In den letzten Jahren erschienen Veröffentlichungen, die dies für die jüngste Zeit z.B. für Spornpieper (Dufour et al 2021, Current Biol.), Gelbbrauen-Laubsänger (Dufour et al 2022, Movement Ecol.) oder Zwergammern (Ellwanger et al 2021, Dutch Birding) nahelegen. Die Mehrheit der Individuen dieser Arten ziehen traditionell aus der Paläarktis nach Südostasien, nicht wenige tauchen aber in den letzten Jahren vermehrt auch in Westeuropa auf und sind vielleicht Vorboten einer neuen Zugstrategie. Ob sich dieses Verhalten langfristig etabliert, bleibt aber natürlich abzuwarten. Ein noch bekannterer Fall der Ausbildung eines gänzlich neuen Zugweges ist das Beispiel der oben schon erwähnten Mönchsgrasmücken. Viele Vögel aus Mitteleuropa ziehen zum Überwintern nach Nordwesten auf die britischen Inseln, wo sie von intensiven Vogelfütterungen profitieren. Womöglich hat auch der Klimawandel mit seinen milderen Wintern dazu beigetragen. Damit sind wir bei der eigentlichen Frage angekommen, welchen Einfluss der Klimawandel auf die Zugwege und die Lage der Überwinterungsgebiete für Zugvögel hat.
Zahlreiche Arten, die wir heute ganzjährig in NRW und Mitteleuropa beobachten, waren noch vor einigen Jahren oder zumindest Jahrzehnten fast reine Zugvögel. Dazu gehören klassische Teilzieher wie Graureiher, aber auch viele Singvögel wie Sommergoldhähnchen, Zilpzalp, Hausrotschwanz, Heckenbraunelle oder die erwähnte Mönchsgrasmücke. Noch vor einigen Jahren haben auch wir uns in der NWO bemüht, Winternachweise dieser Arten in Sammelberichten einzeln aufzuzählen. Ein Blick in ornitho zeigt, dass dies heute ziemlich lange Listen ergeben würde und das liegt wohl nicht nur an der gesteigerten Beobachtungsintensität. Kurzstreckenzieher, die im Mittelmeerraum überwintern, verbleiben also vermehrt näher an ihren Brutgebieten. Sie sind zudem auch oft kurzfristig in der Lage, auf sich ändernde Bedingungen wie einen starken Wintereinbruch zu reagieren. Ein bekanntes Beispiel sind Kraniche, die zunehmend versuchen, in Mitteleuropa zu überwintern. Neben dem Klima spielt bei dieser Art aber auch die verbesserte Nahrungsverfügbarkeit eine Rolle. Auch viele Wasservögel haben auf Klimaänderungen in den letzten Jahrzehnten reagiert. Manche Entenart, die früher bis West- und Südwesteuropa zog, kann heute schon im Ostseeumfeld überwintern, weil das Meer selbst vor der schwedischen und finnischen Küste vermehrt eisfrei bleibt. Damit verändern sich auch bei uns die regionalen Bestände, ohne dass dies automatisch bedeuten muss, dass sich die Gesamtpopulation verändert. Deutlich herausfordernder ist die Situation bei Langstreckenziehern. Waren die bisher beschriebenen Veränderungen oft graduell, können Arten, die südlich der Sahara überwintern, nicht so leicht ihr Überwinterungsgebiet ein paar Kilometer nach Norden verschieben. Die Wüste stellt für die meisten Arten keinen geeigneten Lebensraum dar. Ihre einzige Möglichkeit ist, im Mittelmeerraum zu überwintern. Und tatsächlich gibt es Langstreckenzieher, die mittlerweile zunehmend auf der Iberischen Halbinsel überwintern. Weißstörche finden Nahrung auf Mülldeponien und in Reisfeldern. Auch Arten wie Wendehals, Wiedehopf und Rauchschwalbe verbleiben teilweise im Winter in Europa. Der Klimawandel führt aber nicht nur zu verkürzten Zugwegen. Vögel, die sich in Folge der Erderwärmung in Europa nach Norden ausbreiten, sind mit längeren Zugwegen konfrontiert. Das gilt z.B. für Bienenfresser und Stelzenläufer. Zukunftsprojektionen sagen teilweise erhebliche Verschiebungen der Verbreitungsgebiete voraus. Ob alle Vögel die längeren Zugstrecken in die Überwinterungsgebiete bewältigen können, bleibt abzuwarten, zumal die Klimakrise die Lebensbedingungen für Vögel in vielen Rast- und Überwinterungsgebieten massiv verschlechtern dürfte.
Wer selbst zur Erforschung der Auswirkungen des Klimawandels auf den Vogelzug beitragen möchte, kann uns unterstützen, durch eine Mitgliedschaft in der NWO und durch aktive Teilnahme an unseren Monitoringprogrammen.
Quellen (Auswahl)
Bairlein F 2022. Das große Buch vom Vogelzug. Aula-Verlag, Wiebelsheim.
Doswald et al 2009. Potential impacts of climatic change on the breeding and non-breeding ranges and migration distance of European Sylvia warblers. J. Biogeogr. doi.: 10.1111/j.1365-2699.2009.02086.x.
Dufour et al 2021. A new westward migration route in an Asian passerine bird. Current Biol. doi.: 10.1016/j.cub.2021.09.086.
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