Was sind Nesthocker und Nestflüchter?

Juveniler Kiebitz
Kiebitze sind Nestflüchter (© Hans Glader)

In der Vogelwelt gibt es zwei evolutive Hauptstrategien für Jungvögel nach dem Schlupf. Einige bleiben im Nest, andere verlassen dieses so schnell wie möglich. Was sind weitere Unterschiede und gibt es auch etwas dazwischen?

Vögel sind wie kaum eine andere Tiergruppe bekannt für ihre Brutfürsorge. Sie sind damit aber natürlich nicht allein und auch bei Fischen, Insekten, Säugetieren u.a. kümmern sich Eltern teilweise intensiv um den Nachwuchs. Allerdings werden bei nestbauenden Vögeln und Säugetieren ganz ähnliche Unterscheidungen gemacht. So lassen sich sogenannte Nesthocker und Nestflüchter voneinander unterscheiden. Im Folgenden beleuchten wir die beiden Begriffe aber natürlich aus ornithologischer Sicht.

Nesthocker schlüpfen weitestgehend unbefiedert und ziemlich hilflos aus dem Ei. Beispiele für Nesthocker finden sich bei jungen Singvögeln, Störchen und Greifvögeln. Die Jungvögel können nicht nur noch nicht fliegen, sondern haben meist auch die Augen noch geschlossen und werden aktiv von ihren Eltern gefüttert. Sie verlassen das Nest erst, wenn sie (weitgehend) flügge sind. Die Nestlingszeit variiert sehr stark zwischen einzelnen Arten. Bei heimischen Singvögeln sind es oft knapp zwei bis rund drei Wochen. Vögel, die offene Nester bauen und daher anfällig für Nestprädation sind wie z.B. Amseln, werden deutlich schneller flügge als Meisen in geschützten Höhlen, wobei natürlich weitere Faktoren ebenfalls eine Rolle spielen können. Die großen Kolkraben haben eine Nestlingszeit von fünf Wochen, bei südamerikanischen Harpyien dauert die Nestlingszeit sogar rekordverdächtige fünf bis sechs Monate, bis das einzige Junge flügge ist. Auch nach dem Ausfliegen werden je nach Art viele Jungvögel noch eine gewisse Zeit von ihren Eltern versorgt. Das können wenige Tage bis Wochen sein, bei der erwähnten Harpyie sind es acht bis zehn Monate. Nestflüchter zeigen dagegen eine andere Strategie.

Weißstorch mit Jungen
Weißstörche sind Nesthocker (© Hans Glader)

Bei Nestflüchtern schlüpfen die Jungvögel bereits befiedert aus dem Ei. Sie tragen ein wärmendes Dunenkleid, ihre Motorik und Sinneswahrnehmung ist bereits vergleichsweise weit entwickelt. Sie können nach wenigen Stunden auf eigenen Beinen stehen. Das Nest wird oft schon nach kurzer Zeit für immer verlassen. Bei vielen Arten können die Jungen auch schon selbständig nach Nahrung suchen und werden nur gelegentlich von den Eltern gefüttert. Typische Beispiele für Nestflüchter sind viele an der Basis des Vogelstammbaums stehende Arten wie Strauße, Enten- und Gänseverwandte. Auch Watvögel sind typische Nestflüchter. Ein extremes Beispiel findet sich bei australischen Thermometerhühnern. Hier werden die Eier in Gruben gelegt und dort in speziell angelegten Haufen verrottenden Pflanzenmaterials durch die entstehende Wärme ausgebrütet. Das Männchen bewacht zwar den Bruthügel, aber die Jungen sind nach dem Schlupf direkt selbständig. Bereits nach einem Tag können sie kurze Strecken fliegen. Vergleichbar ist die Situation beim Hammerhuhn oder Maleo, das auf der indonesischen Insel Sulawesi lebt. Hier werden die Eier von der Sonneneinstrahlung oder von vulkanischer Erdwärme ausgebrütet. Geschlüpfte Jungvögel müssen sich von Anfang an selbst versorgen. Echte Brutpflege findet bei dieser Art gar nicht statt.

Zwischen Nestflüchtern und Nesthockern gibt es allerdings auch evolutive Strategien, die sich nicht eindeutig einem der beiden Fälle zuordnen lassen. In diesem Fall wird von Platzhockern gesprochen. Die Jungvögel bleiben nur kurz im Nest und suchen einen geschützten Platz in der Nähe auf. Möwen gelten beispielsweise als typische Platzhocker. Sie bleiben in der Kolonie, suchen vielleicht einen geschützten Platz in der Vegetation auf und werden von den Eltern intensiv versorgt.

Zum Schluss sind die beschriebenen unterschiedlichen brutbiologischen Verhaltensweisen natürlich erstmal aus einer evolutionsbiologischen Sichtweise hochspannend. Sie sind aber auch essentiell, wenn es darum geht, Vögel zu schützen. In der Praxis bedeutet Vogelschutz ganz oft, dafür zu sorgen, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Jungvögel bis zum Flüggewerden überleben. Dazu gehört der unmittelbare Schutz des Nestbereichs oder der Schutz durch direkte Einflüsse ebenso wie der Schutz eines nahrungsreichen Lebensraumes. Dabei kann es durchaus wichtig sein, ob die Vögel auf eigene Faust Nahrung suchen müssen oder ihre Eltern diese in der Umgebung finden können. Die genaue Kenntnis der Brutbiologie auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse ist entscheidend, um effektiven Vogelschutz zu betreiben.

 

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