Wie gut können Vögel riechen?
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts dachte man noch, Vögel hätten keinen besonders guten Geruchssinn. Die Vermutung, Vögel könnten schlecht riechen, reichte teilweise noch weiter zurück. In den 1820er Jahren beobachtete der einflussreiche US-amerikanische Ornithologe John James Audobon (eine nicht unumstrittene Gestalt, aber einer der Paten der nordamerikanischen Ornithologie), dass Truthahngeier nicht an einen ausgelegten Kadaver kamen, den er mit Gebüsch abgedeckt hatte, während ein gut sichtbarer Kadaver von Truthahngeiern angenommen wurde. Kenneth Stager zeigte allerdings in den 1960er Jahren, dass Truthahngeier ausgezeichnet riechen konnten. Ende der 19070er zeigte David Houston anhand von Experimenten, dass Truthahngeier jedoch frisches Aas bevorzugen. Audobon hätte also wohl einfach einen weniger verrotteten Kadaver nehmen sollen und die Wissenschaftswelt hätte vielleicht schon früher annehmen können, dass Vögel gut riechen. Allerdings wurde bereits in den 1930er Jahren Erdgas, das durch Leitungen gepumpt wurde, Ethanthiol zugesetzt – eine übelriechende Flüssigkeit, deren Geruch auch von Kadavern ausgeht. Ethanthiol hilft bei der Suche von Gaslecks. In abgelegenen Regionen konnten vom Geruch angelockte Truthahngeier als Hinweis auf Gaslecks gedeutet werden und so vermutlich den Ingenieuren bei der Suche nach undichten Stellen helfen.
Es gab aber noch andere verwirrende Hinweise, die dafür sorgten, dass der Geruchssinn der Vögel unterschätzt wurde. Studien Anfang des 20. Jahrhunderts deuteten auf vergleichsweise kleine Riechkolben hin. Aber auch schon damals gab es erste Forschungsergebnisse, die diesen Annahmen widersprachen. Heute wissen wir, dass viele Vögel sehr wohl gut riechen können und dies auch großen Einfluss auf die Verhaltensökologie in dieser Tiergruppe hat und auch die Neuroanatomie hat diese ersten Annahmen widerlegt. Erste anspruchsvolle Experimente wie die am Truthahngeier wurden in den 1950er und 1960er Jahren durchgeführt. Heute haben Studien viele Geruchsrezeptoren nachgewiesen und genetische Studien zeigen grundsätzlich vergleichbare Geruchsfähigkeiten von Säugern und Vögeln (z.B. Steiger et al. 2008, Proc. Royal Soc. B.). Hinzu kommen mittlerweile zahlreiche Untersuchungen an verschiedenen Vogelarten, die die weite Verbreitung eines ausgeprägten Geruchssinns unter den Vögeln belegen. Von Albatrossen über Tauben, Alke, Papageien bis hin zu verschiedenen Singvögel ist der Geruchssinn mittlerweile in Bezug auf unterschiedlichste Fragestellungen untersucht worden.
Besonders gut erforscht ist mittlerweile der Geruchssinn von Seevögeln. Röhrennasen (u.a. Albatrosse, Sturmtaucher, Sturmvögel) können sich offensichtlich über 1000e Quadratkilometer orientieren. Sie nutzen Dimethylsulfid, kurz DMS, einen Geruchsstoff, der von Phytoplankton ausgeht, um sich damit in einer olfaktorischen Landschaft zu orientieren. DMS korreliert mit weiteren Eigenschaften des Ozeans wie der Meerestiefe, so dass sich für die Vögel die eintönig erscheinende Hochsee mutmaßlich deutlich heterogener darstellt. Auf kleinerer Skalenebene (10 bis 100e Quadratkilometer) finden Meeresvögel mit dem Geruchssinn auch Beute – für die interessierten Spezialist*innen: höhere Konzentrationen Pyrazine und Trimethylamine hängen mit dem Vorkommen von Krill zusammen. Bestimmte Gerüche entstehen interessanterweise genau dann, wenn Fisch und Krill gefressen werden. Auch für das Auffinden der Nisthöhlen ist der Geruch offensichtlich maßgeblich. Die zahlreichen Studien wurden vor allem von der Arbeitsgruppe um Gabrielle Nevitt durchgeführt (z.B. Nevitt 2000, Biol. Bull.; Nevitt 2008, J. Exp. Biol.).
Die neuseeländischen Kiwis, die bekannten nachtaktiven flugunfähigen Vögel, können ebenfalls sehr gut riechen und verströmen selbst einen pilzig-erdigen Geruch (Castro et al. 2010, J. Avian Biol.). Sie sind die einzige Vogelgruppe, bei der sich die Nasenlöcher vorne am Schnabel befinden. Beim Stochern in der Erde nach Nahrung kommen offensichtlich nicht nur die taktilen Fähigkeiten zur Geltung. Auch Kakapos besitzen wahrscheinlich die Fähigkeit, ausgezeichnet zu riechen (Hagelin 2004, Ibis). Sie riechen aber auch selbst gut: sie geben offensichtlich einen Duft nach Lavendel und Honig ab und besonders Männchen duften wohl intensiv. Übrigens schlichen sich frühere Maorijäger bei der Jagd auf Kakapos immer gegen den Wind an – als die „westliche Wissenschaft“ praktisch keine Ahnung vom Geruchssinn der Vögel hatte, war diese am anderen Ende der Welt vermutlich schon zumindest anekdotisch bekannt.
Weißstörche riechen den Geruch frisch geschnittenen Grases und finden damit offensichtlich sehr schnell gemähte Wiesen, auf denen sie bevorzugt nach Nahrung suchen (Wikelski et al 2021, Sci. Rep.). Der Geruchssinn spielt also offensichtlich auch bei der Futtersuche eine bis vor Kurzem nicht gekannte Rolle.
Eine Studie aus Wien konnte jüngst zeigen, dass Kohlmeisen ihren Geruchssinn sogar zur Orientierung in ihnen bekannten Gebieten nutzen (Mahr et al. 2022, Front Ecol. Evol.). Auch für das Zugverhalten scheint dem Geruchssinn eine unterschätzte Rolle zuzukommen, wie eine Untersuchung an Katzenvögeln (heute manchmal Katzenspottdrosseln genannt) gezeigt hat (Holland et al. 2009, J. Exp. Biol.); Altvögel mit betäubtem Geruchssinn hatten deutlich schlechtere Navigationsleistungen als Vögel, bei denen der Magnetsinn beeinflusst war.
Stare verbauen dagegen in ihrem Nest duftende Kräuter und Experimente zeigen, dass dabei der Geruchssinn eine wichtige Rolle spielt und vermutlich auch Lernen bzw. Prägung im Nestlingsalter eine Rolle zukommt (Gwinner & Berger 2008, Anim. Behav.).
Blaumeisen nutzen Geruch zur Feindvermeidung, wie eine Studie aus Spanien zeigen konnte, bei der Nistkästen mit dem Duft von Frettchen behandelt wurden (Amo et al 2008, Funct. Ecolog.). Eine Studie an derselben Vogelart, an der u.a. die Uni Bielefeld beteiligt war, konnte zeigen, dass Blaumeisenküken offensichtlich zwischen dem Geruch von Nestlingen aus dem eigenen Nest und dem fremder Küken unterschieden und ihr Bettelverhalten entsprechend anpassen (bei unverwandten Nestlingen wird mehr gebettelt als bei Geschwistern) (Rossi et al 2017, Funct. Ecol.). Nicht minder faszinierend ist die Situation bei Zebrafinken – die Jungen reagieren offensichtlich auf den Geruch ihrer Mutter, auch wenn die Eier schon vor dem Schlüpfen in ein anderes Nest gesetzt wurden (Caspers et al 2017, Sci. Rep.).
Bei Winterammern spielt der Geruch des Bürzeldrüsensekretes offensichtlich eine große Rolle bei der Partnerwahl (Whittaker et al 2013, Anim. Behav.). Interessanterweise entstehen die flüchtigen Geruchsstoffe jedoch höchstwahrscheinlich durch Bakterien, so dass dem Mikrobiom hier eine bisher unterschätzte Rolle zukommt (Whittaker et al. 2019, J. Exp. Biol.).
Selbst Vögel, von denen man denken würde, visuelle und akustische Signale spielen eine überragende Rolle, nutzen offensichtlich ihren Geruchssinn: Kolibris meiden beispielsweise Blüten, die nach bestimmten Ameisen riechen und umgehen möglicherweise so unliebsame Konkurrenz (Kim et al. 2021, Behav. Ecol. Sociobiol.).
Die vielen Beispiele zeigen, dass das Geruchsvermögen von Vögeln mittlerweile intensiv untersucht wird. Das Vorurteil, Vögel hätten einen schlechten Geruchssinn, wurde in die Mottenkiste der Wissenschaftsgeschichte verbannt. Trotz dieses Paradigmenwechsels ist aber längst nicht alles verstanden. Vieles deutet darauf hin, dass Riechen in enger Kombination mit anderen Sinnesleistungen gemeinsam geschieht und trotz der vielen Beispiele sind bisher auch nur eine kleine Zahl an Vogelarten näher untersucht worden. Ornithologie bleibt spannend.
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